Pilgern mit Genuss
Jürgen Schmücking auf kulinarischen Jakobswegen.
Das Wandern am Jakobsweg ist mit dem Pilgern der vergangenen Jahrhunderte nicht vergleichbar. Die Motive, den Weg zu gehen, haben sich ebenso geändert wie die Wegstrecke. Heute werden oft nur noch die letzten 100 Kilometer, quasi der letzte Zipfel des Weges nach Santiago de Compostela gegangen. Das sind immerhin noch ein paar intensive Tage mit guten Erlebnissen und Momenten. Aber gemessen an der ursprünglichen Idee ist es eher ein Klacks. Das ist etwa so, als würde man mit dem Fahrstuhl bis zur vorletzten Etage eines Wolkenkratzers fahren, die letzten beiden Stockwerke zu Fuß gehen und dann sagen, man wäre auf den XY-Tower gegangen. Eine halbe Sache. Wer von Sarria nach Santiago wandert, wandert. Und pilgert nicht. Der größte Unterschied überhaupt ist der Rückweg. Er gehört – notgedrungen – zur Tradition des Pilgerns und hat auch eine psychologische Bedeutung. Hat man früher die Kathedrale von Santiago de Compostela erreicht, war erst der halbe Weg geschafft. Zug und Flug waren lange keine Option. Es blieb nichts anderes übrig, als sich zu Fuß auf den Heimweg zu machen. Was, jetzt mit der untergehenden Sonne im Rücken, mit Sicherheit ein intensiveres Erlebnis war als ein Rückflug mit Umstieg in Frankfurt oder eine Zugfahrt, bei der die Eindrücke der Wandertage schnell verschwimmen, weil man ständig fürchtet, einen Anschlusszug zu verpassen.
Nach Santiago de Compostela kam man von vielen Orten. Ein weit verzweigtes Wegenetz über ganz Europa stand den Pilger*innen zur Verfügung. Ausgangspunkte waren Brüssel, Zagreb oder Budapest. Jetzt kommt der Genuss ins Spiel. Man kann den Jakobsweg als Zeit des Verzichts und der Konzentration auf den Geist verstehen. Viele Pilger*innen taten das und tun es noch immer. Man kann ihn aber auch zu einer kulinarischen Reise machen. Mit Abstechern und kleinen Umwegen. Das Baskenland ist zum Beispiel die Region Spaniens, die über die meisten 3-Sterne-Restaurants verfügt. Aber auch in Asturien oder Kantabrien kann man eigentlich nichts falsch machen, wenn man in einer Gaststätte ein „menu del dia“, also ein Tagesmenü, oder ein „menu del peregrino“, ein Pilgermenü, bestellt. Und wenn auf der Karte „percebes“ steht, sollte es sowieso kein Halten mehr geben. Das sind portugiesische Entenmuscheln, die zugegeben etwas skurril aussehen, aber unsäglich gut schmecken. Man muss dafür nur etwas vom Weg abkommen, dann wird der „camino“, der Weg, zum Hochgenuss.
Der Tiroler Jakobsweg
Das gilt auch für Tirol. Der Jakobsweg, der durch Tirol führt, hat seinen Ausgangspunkt in der kleinen Kathedrale von Marburg. Streng genommen führt er das Inntal entlang nach Innsbruck und dann über den Brenner Richtung Bozen. An die Strecke kann, muss man sich aber nicht halten. Ein Ausflug ins Paznaun zahlt sich aus kulinarischer Sicht nämlich gleich mehrfach aus. Genau wie Bilbao oder San Sebastian im Baskenland ist Ischgl ein kulinarischer Hotspot in Tirol. Die Dichte an haubenprämierten Restaurants ist so hoch wie nirgends sonst. In der Paznaunerstube kocht Martin Sieberer seit einer gefühlten Ewigkeit auf höchstem Niveau und die jüngeren, allen voran Benny Parth vom Stüva, Andreas Spitzer vom fliana und Gunther Döberl vom stiar, sind längst auf Augenhöhe.
Rund um diese Zampanos hat sich ein spannendes Projekt entwickelt: der kulinarische Jakobsweg. Das Ziel ist, dass Almen und Hütten der Region einen Wandersommer lang jeweils ein Gericht eines Haubenkochs auf der Karte haben. Mit dabei sind das Almstüberl auf der Neuen Alpe Diaz, die Friedrichshafener Hütte, die Heidelberger Hütte, die Ascherhütte, die Jamtalhütte und die Faulbrunnalm. Den Start in die diesjährige Saison machte Martin Sieberer im Almstüberl. Sein Gericht: ein Kräuterrostbraten mit Erdäpfelriebler und gebratenem Gmüas. Ein üppiges und deftiges Gericht, das man sich erst verdienen muss. Um das Almstüberl zu erreichen, gibt es zwei (oder drei) Möglichkeiten. Am öftesten beschrieben ist der Weg von der Bergstation über die Forststraße. Der Weg dauert etwa anderthalb Stunden und kann sogar mit dem Kinderwagen gegangen werden. Oder, die sportliche Variante, man vermeidet die Straße und ihre Serpentinen und geht vom Almmuseum Alpe Dias (ein zauberhaftes Kleinod nur ein paar Minuten über der Seilbahnstation) den direkten Weg zum Almstüberl. Kurz und steil. Aber der Aufstieg lohnt.
Auch der zur Friedrichshafener Hütte. Dort war Benny Parth am Werken. Parth war 2019 Koch des Jahres und was er im Stüva, dem mit 4 Hauben bewerteten Restaurant im Hotel seiner Familie, dem Yscla, aus der Küche schickt, ist in einzigartig. Er frönt keinem radikalen Regionalismus und schwört eher auf Produkt und Produktqualität. Trotzdem hat es sein Saibling mit Enzianschaum und Erdäpfelpüree längst zum Klassiker geschafft. Heuer hat er ein Gericht für die Friedrichshafener Hütte kreiert. Ein veganes Gericht wohlbemerkt. Was sowohl für Parth wie auch für eine Hüttenkarte eher außergewöhnlich ist. Das Gericht ist es sowieso: Heimischer Pilz im Röstimantel auf Paprikakraut und Schnittlauchsauce. Sauce. Ohne die geht bei Benny Parth gar nichts. Er gilt weit über die Grenzen des Alpenraums hinaus als Saucenfetischist und -künstler. Und die Hütte? Die ist auch so ein sicherer Hafen für soliden Genuss. Seit über 100 Jahren thront die massive Friedrichshafener Hütte über der Muttenalpe oberhalb von Ischgl und Galtür. Der Anstieg zur Hütte dauert, von Galtür kommend, knapp drei Stunden und kann auch von Familien mit Kindern gut bewältigt werden. Der Ausblick, den man dann von der Hütte auf die ganze Verwallgruppe hat, ist überwältigend. Die reguläre Speisekarte ist hüttentypisch, die Gerichte ausgezeichnet. Besonders die Marendplatte mit Verwaller Spezialitäten, der „Stramme Seppl“, ein zünftiger Schwarzbrottoast, und die Erdäpflblattln mit Sauerkraut.
Als der Kulinarische Jakobsweg im Paznaun 2008 ins Leben gerufen wurde, stand Jahrhundertkoch Eckart Witzigmann Pate. Mittlerweile ist die Wanderveranstaltung für Fans des guten Geschmacks fest etabliert und erfreut sich großer Beliebtheit. In der Zwischenzeit waren Hauben- und Sterneköche aus aller Welt in der Ischgler Bergwelt. Mittlerweile – Corona – zeigt die heimische Herd-Elite, was sie kann. Und nicht nur Stars der Szene, auch die jungen Wilden haben heuer erstmals eine Bühne. Die „Young Chefs Paznaun“ rocken im Sommer die Jamtalhütte. Die Zukunft darf also als gesichert gelten. Auch ein Aspekt von Nachhaltigkeit.
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zuletzt geändert am 16.09.2021