Surfen im Atlantik
Frei und ein bisschen verrückt - Wer surfen lernen will, findet an der französischen Atlantikküste die besten Bedingungen, das Wetter ist dabei nebensächlich. Für den Ritt auf der perfekten Welle nimmt man ohnehin einiges in Kauf. Die Kinder von Redakteurin Sandra Lobnig stürzten sich mit den Brettern in die Wellen.
Geschafft! Nach stundenlangem Wettstreit hat sich am Nachmittag endlich die Sonne durchgesetzt. Auch die letzten Wolkenfetzen sind verschwunden, der Himmel strahlt in sattem Blau, die Gischt in der Brandung leuchtet fast blütenweiß. Im gleißenden Licht hat der weite Sandstrand die Farbe des Milchkaffees, der mir in Yoyos Bar direkt an der Sanddüne hinterm Strand serviert wird. Ich strecke mein Gesicht der Sonne entgegen. Die hat sich in den vergangenen Tagen in unserem Familienurlaub am französischen Atlantik nahe des Küstenstädtchens Bretignolles-sur-mer rar gemacht. Umso sonnenhungriger bin ich und all die Urlauber*innen und Einheimischen, die in Scharen an mir in Richtung Plage des Dunes vorbei pilgern. Familien ziehen vollbepackte Bollerwagen, Jugendliche schleppen Strandtaschen, Surfer kommen mit unterm Arm eingeklemmten Brettern daher. Alle wollen ans Wasser. Die nahen Parkplätze sind voll, der Strand füllt sich, die Tische bei Yoyo sind alle besetzt. Frisch gebackene Crêpes, Churros, knusprig und fett, Burger und Pommes frites gehen laufend über die Theke. Die Schlange vor der Eisbar ist lang.
Mit bunten Brettern zum Strand
Ein paar Schritte weiter hat sich eine Menschentraube vor der Holzhütte der Atlantic Lézard Surf School gebildet. Die Surfkurse für Anfänger*innen starten in wenigen Minuten. Mitarbeiter Momo und seine junge Kollegin werfen prüfende Blicke auf jedes wartende Kind und holen passende Neoprenanzüge aus der Hütte. Fix schlüpfen auch meine beiden Kinder in ihre. Am dritten Tag ihres einwöchigen Anfängerkurses können sie das schon richtig gut, nur beim Reißverschluss am Rücken muss ich helfen. „On y va!“, ruft Alex, der junge Surflehrer in die Runde. „Take your boards and follow me!“ Acht schwarze Gestalten mit roten Leuchtshirts folgen ihm zum Strand, die kleineren unter ihnen gehen jeweils zu zweit hintereinander und tragen ihre Boards – rechts und links vom Körper – zusammen. So auch meine zwei. Ich schaue ihnen nach und sehe wie sie, die Sonne im Gesicht, mit ihren bunten Brettern hinter den Dünen zum Strand hin verschwinden.
Neoprenanzüge für jede Wetterlage
Seit 35 Jahren bietet die Atlantic Lézard Surf School am Plage des Dunes im französischen Departement de la Vendée Surfkurse für Anfänger*innen und Fortgeschrittene an. „Wir sind die älteste Schule in der Vendée“, erzählt mir Momo stolz. Der passionierte Surfer wirft sich seit Jahrzehnten täglich mit seinem Brett in den Atlantik, außer wenn die Temperaturen so richtig ungemütlich werden. „Mit dem Älterwerden gehe ich im Winter nicht mehr ins Wasser“, schränkt er ein, „das ist mir zu kalt.“ Wer richtig gute Wellen reiten möchte, sollte kaltes Wasser allerdings nicht scheuen. Die besten Wellen gibt es im Frühling, Herbst und Winter, im Sommer hingegen sind sie weniger stark. „Für jedes Wetter haben wir die passenden Anzüge“, sagt Momo und zeigt Neoprenanzüge in verschiedenen Ausführungen. Die für den Winter sind besonders dick, haben sehr feste Nähte und eine Kapuze. Dazu trägt man Schuhe und Handschuhe aus Neopren. Mir wird beim Gedanken an die Fluten des Atlantiks im Herbst und Winter trotzdem kalt. So tapfer wie meine Kinder, die die Tage davor unter der grauen Wolkendecke und bei Wind wieder und wieder mit ihren Boards aufs Meer hinaus paddelten, bin ich nicht.
Gezeitenabhängig
Dass das Wetter beim Surfen eine untergeordnete Rolle spielt, bestätigt mir auch Uli Scherb. Der gebürtige Deutsche betreibt seit Jahrzehnten eine Surfschule im französischen Küstenort Vieux Boucau, zwei knappe Autostunden von Bordeaux entfernt. Zusammen mit Austrian Surfing, dem Österreichischen Wellenreitverband, bildet er dort in der Nebensaison Surflehrer*innen aus ganz Europa, auch aus Österreich aus. „Regen, Kälte oder Wind sind kein Grund, nicht aufs Surfbrett zu steigen, es sei denn, es ist gefährlich, ins Wasser zu gehen“, sagt Scherb. Die Gezeiten hingegen haben aufs Surfen großen Einfluss. Ebbe oder Flut bestimmen den besten Zeitpunkt für den Ritt auf den Wellen und der kann im August auch um sieben Uhr morgens sein. Oder wie bei meinen Kindern an einem der Kurstage abends um halb acht.
Viel Aufwand für ein paar Augenblicke
Sich frühmorgens oder abends in den 19 Grad kalten Atlantik zu werfen: Das muss echte Leidenschaft sein. Wer einmal Feuer gefangen hat, stürzt sich immer wieder in die Fluten, sagt man mir. Was die Faszination des Surfens ausmacht? Es sei die Freiheit, die er in den Wellen spürt, meint Momo von der Atlantic Lézard Surfing School. Auf dem Surfbrett fühle er sich mit dem Leben in Kontakt. Und für Uli Scherb? Es fällt ihm nicht so leicht, die Frage zu beantworten. Surfer, sagt er, seien im Grunde ziemlich verrückt. Anders könne man sich kaum erklären, dass sie enorm viel Aufwand für ein paar Sekunden Hochgefühl betreiben. „Das ist ähnlich wie beim Skitourengehen, wo der Aufstieg beschwerlich ist und die Abfahrt schnell vorbei.“ Auch eine Welle dauert maximal eine halbe Minute, meist sind es nur wenige Sekunden. Und doch, die Anreise zum Surf-Spot, die Anstrengung beim Rauspaddeln, Wind und Kälte werden für die großartigen Augenblicke auf dem Surfbrett in Kauf genommen.
Die lange Reise der Wellen
Uli Scherb sieht Surfen als Breitensport und damit offen für jeden, der Spaß daran hat. Beginnen könne man in jedem Alter, sein ältester Surfschüler war 65. „Mit dem Alter wird es aber nicht einfacher. Und Kinder tun sich leichter. Wer leicht und gelenkig ist, hat ebenso einen Riesenvorteil.“ Mittlerweile sei das Equipment aber so weit entwickelt, dass selbst Anfänger*innen schnell Fortschritte machen. Auch hier zieht Scherb eine Parallele zum Wintersport: „Früher dauerte es lange, bis man beim Skifahren lernte, Schwünge zu machen, durch die Ski mit Taillierung gelingt das heute sehr schnell.“ Die neuen Surfbretter haben mehr Volumen, sind breit und dick und damit leichter handzuhaben. Was die perfekte Welle ausmacht, sei im Übrigen höchst individuell, sagt Scherb. Eine Anfängerin verstehe darunter etwas ganz anderes als jemand, der beim Surfen schon sehr fortgeschritten ist. Ob Anfänger*in oder nicht: Die Wellen, die Uli Scherb, Momo oder meine Kinder an der Atlantikküste reiten, haben einen langen Weg hinter sich. Sie entstehen in Tiefdruckgebieten im Nordatlantik, reisen bis zu 2.500 Kilometer weit und werden an der Küste zu sogenannten Dünungswellen. Vor Ort braucht es also gar keinen Wind für gute Surfbedingungen.
Gefahren überschaubar
Würde man mich fragen, können die Wellen in diesen Tagen gern klein bleiben, bis meine Kinder mit ihren Brettern sicher aus dem Meer kommen. Wildes Wasser und starke Strömungen flößen mir Respekt ein, auch wenn am Strand die Rettungsschwimmer patrouillieren. Uli Scherb beruhigt: Als gefährliche Sportart stuft er Surfen nicht ein. „Natürlich gibt es Gefahren. Wellen, die direkt aufs Ufer klatschen und einen auf den festen Sand werfen, können zum Beispiel schwere Verletzungen verursachen. Auch die Strömung ist in unseren Kursen ein großes Thema und wir erklären ausführlich, wie man reagiert, wenn man rausgezogen wird.“ Gefährlicher als viele andere Sportarten, Skifahren etwa, sei Surfen aber nicht – sofern man sich an die Grundregeln halte. In der Atlantic Lézard Surfschool ist es Alex, der den Anfänger*innen die wichtigsten vermittelt. Zum Beispiel dass man nie gegen die Strömung anschwimmen und anderen Surfern nicht den Weg abschneiden soll.
Nach neunzig Minuten im Wasser kommen mir meine zwei am Strand entgegen. „War’s gut?“, will ich wissen. Die Kinder streichen sich die tropfenden Haarsträhnen aus dem Gesicht, blinzeln in der Sonne und grinsen. Es scheint so, als hätten sie ihre perfekte Welle an diesem Nachmittag erwischt. Morgen geht’s weiter. Und laut Wetterbericht wird es richtig heiß. So ein Glück.
Autorin: Sandra Lobnig
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zuletzt geändert am 07.02.2024