Ukraine - Urwälder im Zentrum Europas
Dies ist keine aktuelle Reiseempfehlung. Heinz Fessel aus Trieben hat uns diesen Text auf unseren Aufruf hin geschickt, uns die beeindruckendsten Reisebegegnungen zu erzählen und diese mit Ihnen zu teilen. Angesichts der Zerstörung, die gerade in der Ukraine passiert, macht dieser Bericht über die Schönheit des Landes betroffen. Mögen wir bald wieder dorthin reisen können!
Vor dem aktuellen Krieg war ich mehrmals in der westlichen Ukraine auf Naturerkundung unterwegs und war immer wieder fasziniert von dieser Gegend. In der ukrainischen Region Transkarpatien, auch Waldkarpaten genannt, liegt der größte Buchenurwald unseres Kontinents. Dieses Naturerbe von weltweiter Bedeutung gehört heute, zusammen mit weiteren Schutzgebieten, zum Karpaten Biosphärenreservat.
Um Wälder im Urzustand zu erleben, muss man nicht rund um den Erdball fliegen. Die letzten großen Urwälder vor unserer Haustür. Denn die ukrainischen Waldkarpaten sind von Wien gerade mal eine knappe Tagesfahrt per Bahn entfernt. Die gemächliche Anreise mit der Bahn von Wien über Budapest in den Grenzort Chop in der Ukraine ist nicht nur klimafreundlich, sondern auch ein emotionaler Gewinn: Man plumpst nicht hinein in einen fremden Kulturkreis.
Urwälder von Mala Uholka
Geführte Wanderreisen zu den letzten großen Buchenurwäldern Europas in den ukrainischen Karpaten veranstaltet der gemeinnützige Verein Ostwind. Reiseleiterin Alissa begrüßt unsere kleine Gruppe am Bahnhof in Chop. Schon die erste Tour ging mitten hinein in einen unglaublichen Eichenauwald am Fluss Borzhava, geführt von einem örtlichen Biologen.
Auf der langwierigen Fahrt Richtung Uholka machten wir Halt bei einem der ältesten Denkmäler der ukrainischen Kirchenbaukunst im Ort Kolodne. Die Holzkirche stammt aus dem 15 Jahrhundert. Der Einstieg ins Schutzgebiet Mala Uholka erfolgt bei der Volksschule dieses entlegenen Ortes. Bevor wir in den Urwald aufsteigen besichtigen wir im kleinen Dorf noch eine in Betrieb befindliche Wassermühle. Direkt daneben im Auslauf des Wasserrades befindet sich eine sogenannte „Karpatenwaschmaschine“, ein Holzbottich in welchem das Wasser reinfällt und sich im Kreis dreht und die im Bottich befindliche Kleidung wäscht. Ich kenne solche Naturwaschmaschinen ansonsten nur aus der Region Maramuresch in Rumänien.
Nun geht es hinein in den Urwald. Beim Aufstieg bleibt die Gruppe immer wieder staunend vor einem Baumriesen stehen. Schließlich ein Schild das uns anzeigte, dass wir jetzt die die Kernzone dieses UNESCO Weltnaturerbes betreten. Der Wald kommt einem sehr vertraut vor und doch ist er anders. Buchen, wohin man schaut. In allen Größen und Altersklassen. Mächtige Stämme sind darunter, vierzig Meter hoch, mehr als einen Meter im Durchmesser. Echte Urwaldriesen. Dazwischen hoch aufragende Baumleichen, bizarr zerfasert, mit Baumpilzen bewachsen. Holz in allen Stadien des Werdens und Vergehens. Der ewige Kreislauf der Natur, hier im Urwald von Mala Uholka kann man ihn erleben.
Allein zehn europäische Spechtarten leben in den riesigen Wäldern mit ihrem enormen Totholzanteil, der ein wichtiges Kennzeichen für einen Urwald ist. Dazu Bär, Wolf und Luchs, von denen wir allerdings nur die Trittspuren zu sehen bekommen. Immerhin findet sich unter einer abgestorbenen Wurzel ein Blau-Schnegel, eine seltene, blau schillernde Nacktschnecke. Unvergleichlich der Reichtum an Totholzpilzen, wie zum Beispiel der prächtige Stachelbartpilz, eine Art die nur in solchen Wäldern vorkommt. Mitten in der Kernzone dieses Schutzgebietes kommen wir zur Karstbrücke, ein gewaltiges Felstor und faszinierendes Naturdenkmal, umgeben von 300 Jahren alten Baumriesen.
Der Pfad führt dann noch zum Felsgipfel Tschur mit prächtigem Ausblick bis zu den Gebirgskämmen Rumäniens. Nach den Urwäldern von Uholka erkundeten wir noch den Nationalpark Synevyr sowie den Borzhava Bergkamm. Die Berggipfel erreichen hier Höhen von über 1500 Meter.
Uzhansky Nationalpark und Lemberg
Schließlich erreichten wir das Tal des Flusses Uzh, die Heimat unserer Reiseführerin Alissa. Dieses Gebiet ist bereits die Grenzregion zur Slowakei bzw. Polen. Hier befindet sich der Nationalpark Uzhansky, ebenfalls mit Buchenurwald-Reservaten. Neben kleineren Wanderungen besichtigten wir auch zwei besondere Holzkirchen: zum einen die Holzkirche von Kostryna aus dem Jahre 1645 mit beeindruckenden Ikonen im Innenraum und die UNESCO Welterbe Holzkirche von Uzhok aus 1745. Meisterstücke der Holzbaukunst.
In einem einsamen Seitental, nicht weit vom Dreiländereck Ukraine-Polen-Slowakei entfernt, bestaunten wir ein wahres Naturmonument. Die Rieseneiche von Stuzica, ein wahrer Koloss, mit einem Stammumfang von neun Metern und einem Alter von ca. 950 Jahren. Eine der ältesten Eichen der Ukraine. Die Rieseneiche ist auch mein persönlicher Lieblingsplatz in den ukrainischen Waldkarpaten.
Am Uschotsky Pass verabschiedeten wir uns von den Waldkarpaten und fahren weiter nach Lemberg (Ukrainisch: Lviv), die größte Stadt der Westukraine. Die Altstadt ist ebenfalls UNESCO Weltkulturerbe. Die Region um Lemberg war bis 1918 auch Teil der Donaumonarchie, der frühere Einfluss der Habsburger ist bis heute erkennbar.
Noch zum Nachdenken
In den Waldkarpaten befindet sich der geographische Mittelpunkt Europas. Zehn Kilometer südlich der Stadt Rachiv, am rechten Ufer der Theiss, liegt dieser wichtige Messpunkt der K.u.K. Militär Landvermessung. Es handelt sich dabei um eine Urmarke, die im Jahre 1887 exakt eingemessen wurde. Ein Denkmal schmückt diesen symbolträchtigen Ort.
Autor: Heinz Fessel
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zuletzt geändert am 19.02.2023