Mein Wien - Julia Balatka zeigt uns ihre Stadt
„Einen Wien-Trip braucht man nicht inszenieren“, sagt Julia Balatka. „Historisch gewachsene Städte wie Wien haben alle Voraussetzungen, keine Scheinwelt bieten zu müssen. Beim Reisen betreten wir Lebensräume und keine Parallelwelten.“
Julia Balatka ist Eigentümerin des Reisebüros JB Travel und Expertin für ökologisch und sozial verträgliches Reisen. Und Wienerin. Wenn sie eine Reise zusammenstellt, dann gilt für sie: „Weniger ist mehr. Alles hat man eh nie gesehen und was sehenswert ist, das liegt immer im Auge des Betrachters. Wichtig ist unsere Haltung, wir wollen ja das Wien der Wiener*innen kennenlernen. Dazu sollten wir uns Zeit nehmen.“
Wenn sie uns durch „ihr“ Wien führt, betreten wir verwinkelte Hinterhöfe, kosten typisches Wiener Backwerk, kaufen unverwechselbare Souvenirs und erhalten überraschende Ausblicke auf die Stadt. Wir wohnen nicht in Hotelketten und frühstücken nicht in einem Lokal, das überall auf der Welt gleich aussehen könnte. Wir gehen zu Fuß oder steigen spontan in einen Bus, der uns an den Stadtrand führt, erkunden Stadtwanderwege, Bioheurige und lernen Traditionsgeschäfte kennen, die es nur in Wien gibt und die seit Generationen bestehen.
Das Wien der Wiener*innen erkunden
Bevor es losgeht, laden wir uns die WienTourismus-App „ivie“, einen virtuellen City Guide für Wien, als unsere Lotsin für die Stadt aufs Smartphone. Die App hält nicht nur die beliebtesten Sehenswürdigkeiten Wiens, sondern auch Tipps abseits der ausgetretenen Pfade bereit und hilft bei der Auswahl der Öffis.
Als Wienerin liebt Balatka seit ihrer Kindheit das Uhrenmuseum, einer ihrer Tipps für Museumsfreunde. Aber auch das Clown-Museum, das Kriminalmuseum, das Jüdische Museum oder das Bestattungsmuseum sind typische Wiener Erlebnisse, die man nicht so leicht vergessen wird. „Die Wiener Friedhöfe sind ein Muss, wenn man in die Wiener Seele eintauchen will“, weiß Julia. Wo sonst gibt es auf der Welt offizielle Laufstrecken über den Friedhof, einen Souvenirshop mit „Fan-Artikeln“ vom Bestattungsmuseum als Dauerbrenner und bizarre Wiener Geschichten rund um „a schöne Leich“? Mindestens ein Friedhofsbesuch müsse in Wien auf dem Programm stehen – etwa der Zentralfriedhof, jener in St. Marx oder der Friedhof der Namenlosen, denn wie sang Georg Kreisler: „Der Tod, das muss ein Wiener sein …“
Zum Lokalkolorit gehört auch ein Besuch beim Würstelstand oder im Wiener Rathauskeller, ein Kaffee mit Mehlspeise in einem traditionellen Kaffeehaus, ein Besuch beim Heurigen (Anreise natürlich mit der Bim hinaus in den Vorort nach Grinzing oder Stammersdorf) und eine Jause zwischendurch auf einem der vielen Wiener Märkte. Die Märkte haben es Julia besonders angetan: „Nicht nur der Naschmarkt, sondern die vielen kleinen – wie etwa der Vorgartenmarkt, der Brunnenmarkt oder der Karmelitermarkt – bieten schöne zwischenmenschliche Begegnungen mit den Wiener*innen, ob beim Einkaufen oder beim Schmausen!“
Ein Tag in Wien – alles außer gewöhnlich
Stellen wir uns vor, wir kennen Wien schon ein wenig und wollen ein paar neue Einblicke gewinnen. Was würde Julia für einen Ausflug oder für „One Day in Vienna“ empfehlen? „Unbedingt einmal im Leben auf den Südturm des Stephansdoms, wenn er geöffnet ist. Der Ausblick von dort oben, das ist ein Eindruck, den man nie im Leben vergessen wird.
Und danach in den Prater und zum Riesenrad. Ja, das sind weltbekannte Sehenswürdigkeiten, aber genau dorthin gehen auch wir Wiener*innen. Auch das Museumsquartier ist ein Hotspot, wo man sich treffen oder einfach mal kurz ausruhen kann. Auf einem Markt eine Kleinigkeit essen, sich für ein Museum entscheiden, über einen Friedhof strawanzen, zum Würstelstand gehen oder in einem Praterlokal einkehren.
In der Innenstadt sind meine Lieblingsorte der Franziskanerplatz, die Blutgasse bei der Mozartwohnung oder auch der Stadtpark. Unbedingt unterwegs in das Gasslwerk eintauchen und keinen Hinterhof auslassen: Denn die Innen- und Hinterhöfe eröffnen oft ganz neue Perspektiven auf eine Stadt. Und ihre Menschen.“ Und auch im Dorotheum bekäme man einen guten Einblick in die Wiener Seele – mit Ambiente und Geschichte.Eine ganz andere Sicht auf Wien wiederum bekommt man, wenn man sich von Obdachlosen, Geflüchteten oder Suchtkranken durch die Stadt führen lässt, wie etwa bei Shade Tours. Hier steht der Alltag von Randgruppen am Programm – miterleben, wie eine Stadt abseits meines Besuchs tickt. Bei den Touren von Supertramps stehen den Guides als „living books“ auch gelernte Fremdenführer*innen zur Seite – noch authentischer kann man Wien wahrscheinlich bei einem kurzen Besuch nicht erleben.
Und wenn doch noch ein Tag übrigbleibt?
„Setzen Sie sich in die Straßenbahn und fahren Sie raus nach Nussdorf, wo der Stadtwanderweg auf den Kahlenberg startet. Eine Weinwanderung, ein Besuch beim Bio-Winzer und ein Glaserl Wein mit Blick über Wien!“ Überhaupt empfiehlt Julia immer wieder, einfach mit Bus oder Straßenbahn bis zu einer Endstation zu fahren, um auch den Wohnraum der Menschen kennenzulernen. Immer öfter führt sie ihre Gäste auch auf den Nussberg, den Kahlenberg, den Bisamberg: Die Stadtwanderwege Wiens, die Heurigen mit Ausblick oder ein Ab-Hof-Verkauf im Weingarten liegen dann am Weg und bieten die Möglichkeit für Gespräche, Verkostungen und Einkäufe – Erlebnisse, die sich einprägen und die man mit nach Hause nehmen kann.
Apropos Mitbringsel. Die Souvenirshops mit Massenartikel, die würde Julia kurzerhand verbieten, so die Wienerin resolut. Denn wer einmal eine handgemachte Schneekugel aus der Schneekugelmanufaktur, ein Stück echtes Augarten-Porzellan oder „blühendes Wiener Konfekt“ in der Hand gehalten und ein Stück Oblatentorte beim Heurigen zum „Fluchtachterl“ ausprobiert hat, der will genau solche authentischen Erinnerungen auch für seine Liebsten mitnehmen und daheim davon erzählen. Und gerade die Mehlspeisen und Süßigkeiten aus Wien sind prädestiniert zum Mitnehmen.
„Die Auseinandersetzung mit der Region, den Menschen und der Geschichte – nicht nur in ökologischer Hinsicht, sondern auch im sozialen und kulturellen Kontext – das ist nachhaltiges Reisen“, so die Expertin. Es sei Aufgabe der Politiker*innen und nicht der Besucher*innen, eine Stadt nachhaltig lebenswert zu gestalten. Aber wir Besucher*innen, Einheimische und Gäste, wir haben die Wahl, die richtigen Dinge zu tun. Übrigens: Julia Balatka geht in einer fremden Stadt mit Vorliebe zum Frisör. Nicht wegen der neuesten Modetrends, sondern um dort Alltagskultur zu schnuppern.
Autorin: Angelika Mandler Saul
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zuletzt geändert am 13.06.2024